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DIE LEBENSERINNERUNGEN VON PAUL HAEGER AUS SILESEN.
Niedergeschrieben in zwei Ausfertigungen Januar 1977 und März 1981

Bearbeitet von Dr. Otto Haeger, Oberkammlach, und Reinhard Schinka, Berlin, 2001/2002


"Die drei Haegers und ihre Kronprinzen". V. l. n. r.: Reinhard Haeger mit Sohn Siegfried, Otto Haeger mit Sohn Reinhard, Paul Haeger mit Sohn Martin

I. Die Familie Haeger in Silesen

Da ich nun schon über 83 Jahre alt bin, wäre es gut, wenn ich etwas von meinem Leben erzähle.
Ich, Paul Karl Albert Haeger, bin am 25. Mai 1897 zu Silesen geboren. Unser Vater war Julius Haeger, geboren am 16. März 1860 zu Silesen, unsere Mutter Berta, geborene Krüger, geboren am 2. Januar 1866, war aus dem Nachbardorf Kösternitz.

Unser Vater hatte einen Bauernhof von über 221 Morgen (= 55 Hektar), der Acker und Wald war in einem Plan, auch 40 Morgen Wiese, gleich hinter dem Garten war in einem Plan. Er war wohl einer der besten Höfe im Dorf und schon 200 Jahre im Familienbesitz.

Unser Großvater, Wilhelm Ludwig Haeger, und unsere Oma Phillipine, geb. Nörenberg, hatten drei Söhne:

  • Onkel Reinhard, der nach Zernin, Kreis Kolberg, verheiratet war,
  • Onkel Theodor, dem unser Großvater ein Rittergut von 1300 bis 1400 Morgen in Mandelatz gekauft hatte, und
  • unser Vater, Julius Haeger, der war der jüngste und hat den Hof bekommen.
  • [Der vierte Sohn Albert, der älteste, war im Alter von 20 Jahren gestorben. Zusatz O. H.]

Wir waren sechs Geschwister:

  1. Martha, geb. am 8. Juli 1888
  2. Berta, geb. 24. April 1890
  3. Luise, geb. am 22. Oktober 1891
  4. Alma, geb. am 15. Mai 1895
  5. Paul, geb. 25 Mai 1897
  6. Karl, geb. 18. November 1898

II. Kindheit und Soldat im 1. Weltkrieg

Unser Vater hatte sich im Dezember 1905 schwer erkältet, er bekam eine schwere Lungenentzündung und mußte am 6. Januar 1906 sterben Er war erst 45 Jahre alt, war noch nie krank gewesen, war groß und kräftig und hatte im 1. Garde-Regiment in Berlin gedient, und mußte schon so früh sterben. Nun kam für uns sechs Geschwister gerade keine rosige Zeit. Auf dem Grabstein unseres Vaters stand geschrieben: "Siehe, ich sterbe, doch Gott wird mit Euch sein". Unser Gott ist mit uns gewesen, es ist alles gut gegangen. Unsere Mutter hat im Dezember 1910 wieder geheiratet, und zwar Paul Winkler. Er hat nach dem Tode unseres Vaters gewirtschaftet; war bei uns vorher schon in Stellung. Wir haben nie miteinander Streit gehabt. Er war ein guter Mensch.

Meine Schwestern waren ja nun schon größer, die dann die Arbeit gemacht haben. Mein Bruder Karl und ich mußten, als wir noch klein waren, die kleinen Gänse hüten, Mutter hatte immer 30 bis 40 Stück, dann mußten wir Schafe hüten, und als ich größer wurde, mußte ich Kühe hüten.

Mit sechs Jahren kam ich zur Schule. Unser erster Lehrer hieß Falk, dann kam Lehrer Deutsch, das war ein guter Lehrer, ein echter deutscher Mann. Er war aus Belgard, seine Frau war aus Bösin, die Schwester von unserem Kaufmann Paul-Otto Venzke aus Belgard. Als der erste Weltkrieg am 4. August 1914 begann, wurde unser Lehrer Deutsch gleich wieder Soldat, und da ist er im Frühjahr 1915 als Offiziersstellvertreter in den Karpaten gefallen. Er wurde paar Wochen später nach Belgard überführt und dort beerdigt.

Am Palmsonntag, den 11. April 1911, bin ich durch Pastor Radtke (Sidkow) eingesegnet worden. Mein Einsegnungsspruch steht im 1. Kor. 16 V. 13. Er heißt: "Wachet, stehet im Glauben, seid männlich und seid stark". Ich habe nun auf meines Vaters Hof weiter gearbeitet, ebenso auch meine Geschwister. Ich übernahm nun ein Pferdegespann und machte Feldarbeiten, Pflügen und Eggen und was es so gibt. Als dann im August 1914 der Erste Weltkrieg begann, mußte Paul Winkler die ersten Tage schon zum Militär, dann habe ich alleine weiter gewirtschaftet, bis auch ich im Oktober 1916 Soldat wurde.

Ich wurde zum Feld. Art. Reg. 2 in unsere Kreisstadt Belgard eingezogen, war bei der 1. Batterie, blieb hier bis zum 12. Februar 1917, und da ich aus der Landwirtschaft war, wurde ich als Fahrer eingeteilt.

Das Reiten hat mir Spaß gemacht. Nach der Ausbildung kam ich mit noch 110 Mann als Ersatz zum Feld. Art. Regt. 221. nach Frankreich. Im Sommegebiet, in Nordfrankreich und in Belgien waren wir eingesetzt. So kamen wir bis nach Reims, kämpften u. a. bei St. Quentin, Cambrai, Maubeuge Laon, dies liegt auf einem Berge und ist eine Festung, Lille, Douai, Peronne, Bapounne, Mars Rouboinx, Brüssel, Lüttich, Namur.

Im März 1918 habe ich im Walde bei Naxon das Eiserne Kreuz EK II erhalten. Unser Regiment war zweimal in Flandern in die schweren Kämpfe eingesetzt; - das Dorf Paschendale war nur noch ein Trümmerhaufen, es war ein großes Dorf. Es war wohl im Oktober 1918, als unsere Front immer langsam zurückging. Den 9. November 1918 stand unser Regiment südlich von Brüssel, da hieß es mit mal "Waffenstillstand". Ich weiß es noch, als wenn es heute noch gewesen ist.

Dann begann der Rückmarsch der gesamten deutschen Armee, es ging immer etappenweise, jeden Tag eine bestimmte Strecke, unser Regiment kam in einer Woche bis an den Rhein, bei Düsseldorf sind wir über die Rheinbrücke marschiert, dann ging es links eine kurze Strecke am Rhein entlang, in der Stadt Sterkrade wurden wir verladen. Sind dann über Hamburg, Stettin nach Belgard gefahren, wo wir ausgeladen wurden. So kamen wir nach Lülfitz ins Quartier, ich und noch zwei Mann haben beim Bauer Kaske gelegen. Unsere Geschütze mußten wir nach Kolberg fahren, unsere Pferde wurden verkauft. Nun wurden wir entlassen, so war der Krieg für uns zu Ende.

Im Januar 1919 mußte ich nochmals in die Belgarder Kaserne, die Grenze mit Polen war wohl nicht ganz in Ordnung. Wir wurden aber nicht eingesetzt, nach ein paar Wochen wurden wir wieder entlassen. Ich hatte zu Hause eine Landkarte von Frankreich, da war jede Stadt und jedes Dorf drauf, diese Karte ist nun wohl 1945 in meinem Schreibtisch in unserem Silesen liegen geblieben.

Während meiner Militärzeit in Belgard 1916 war ich mit Wera öfter zusammen. Sie lernte dort sticken. Als ich dann im Februar 1917 nach Frankreich kam, haben wir uns immer beide geschrieben.
Ich hatte das Glück, daß ich zu meinem 20sten Geburtstag Urlaub bekam und ihn zu Hause verleben konnte. Urlaub aus Frankreich war schön, nur die Urlaubstage zu Hause vergingen dann immer sehr schnell, und die Rückfahrt nach Frankreich war dann immer schwer. Bis Berlin, wo ich dann alleine war, waren die Gedanken zu Hause, von Berlin ab gingen die Urlaubszüge, da war man dann wieder unter Kameraden. Da dachte man nicht mehr so viel nach Hause, da war man wieder Soldat.

III. Die Bewirtschaftung meines Bauernhofes in Silesen

Wohnhaus von Paul Haeger in Silesen
Wohnhaus von Paul Haeger in Silesen

Nach dem Kriege habe ich dann wieder zu Hause gearbeitet. Da ich der Erbe von meines Vaters Hof war, mußte ich noch warten, daß ich den Hof übernehmen konnte , denn meine Mutter wollte den Hof noch nicht abgeben. Erst 1924 ging Vaters Hof auf meinen Namen über. Wera und ich haben nun die Arbeit übernommen, aber wir hatten auch gute Hilfe, meine Mutter hat Wera in der Küche und Paul Winkler hat mir bei aller Arbeit geholfen, sei es Feldarbeit oder zu Hause auf dem Hof. Ich bin ihm noch viel Dank schuldig. Auch Schwester Alma hat uns, solange sie zu Hause war, bei der Arbeit geholfen, auch ihr sei Dank dafür.

Altes Backhaus in Silesen
Altes Backhaus in Silesen

Wir beide haben uns über unsere Arbeit gefreut. Ich habe mehrere Maschinen gekauft, eine Dreschmaschine mit Reinigung, eine Drillmaschine, einen 10-PS-Motor. Der alte Motor wollte die Dreschmaschine mit Strohpresse nicht ziehen. Nun hat das Dreschen Spaß gemacht. Ich habe bei meinen ersten Jahren 40 bis 50 Morgen Acker drainiert, die Hütung kleiner gemacht, das war guter Boden, 1938 habe ich noch die Wiese, die zu naß war, drainiert.

Da wir nun zwei Jungen hatten, haben wir uns mit dem Gedanken getragen, einen neuen Stall zu bauen. Der alte Stall war noch nicht schlecht, aber wir wollten doch leichter und bequemer leben. Im Winter 1934 bis 1935 war es dann soweit, da begann das Langholz- und das Steinefahren, im frühen Frühjahr 1935 wurde der alte Stall abgebrochen und der Maurermeister Ewald Guse begann mit dem Neubau.

Das Vieh wurde in die Scheune verlegt, es mußte eben gehen. Der neue Stall mit Futterküche sollte 56 m lang und 14 m breit werden. Zum Schluß hat es doch viel Arbeit gekostet, aber als alles fertig war, da war es doch gut. Alles mit Wasserleitung und Selbsttränke, Motor zum Rübenschneider und Wasserpumpe. Dungstätte und Jauchegrube kam hinten raus, der Hof sollte frei bleiben.
Im Stall waren drei Futtergänge, je neun Plätze und drei Buchten für Jungvieh. Dies war der Kuhstall. Weiter wurden im Stallgebäude der Pferdestall mit Fohlenboxen, der Schweinestall und ein Raum für die Maschinen untergebracht. Die Gesamtkosten lagen bei 20.000 bis 25.000 Mark. Am Sonnabend vor Pfingsten war Richtfest, ich hatte alle eingeladen, die beim Bau mitgeholfen hatten, es waren etwa 35 bis 40 Mann. Ende Juni konnten wir das erste Heu auf den Stallboden bringen, bald kamen auch die Pferde und Kühe und Schweine in den neuen Stall.

So haben wir denn auf unserem Hof mit neuen Stallgebäuden gearbeitet. Die Arbeit hat uns Freude gemacht. Haben Fohlen gezogen, da wir nun den großen Pferdestall mit Fohlenboxen hatten, dazu auch draußen Fohlenkoppeln. Habe dann auch das Rindvieh verbessert, gute Färsen zugekauft.
Im Frühjahr 1939 wurde die große Wiese noch drainiert, und alle Gräben wurden zugemacht. So konnten wir nun mit dem Grasmäher und Heuwender immer gerade durcharbeiten. Im Garten hatte ich schon viele Obstbäume gepflanzt, Spargel hatte ich schon 1926 angelegt.

Der Hof in Silesen
Der Hof in Silesen

Für die Landwirtschaft hatten wir nun gute Zeit, für Getreide, Kartoffeln und Vieh hatten wir stabile Preise, jeder konnte so wirtschaften, wie er wollte. Die Löhne waren auch nicht zu hoch, es konnte jeder damit bestehen.
Auch die Feldarbeit hat doch Spaß gemacht, unser gesamter Acker war doch in einen Plan. Hier hatten wir anfangs zwei Grasmäher und zwei Getreidemäher, sog. Ableger. Zur Ernte 1928 hatte ich einen Selbstbinder gebaut. Nun war die Erntearbeit für die Frauen nicht mehr so schwer. Die Garben mußten nur noch aufgestellt werden. Im Jahre 1930 habe ich eine Dreschmaschine mit Reinigung gekauft (2300 Mark). Das war eine gute Maschine; in diesem Jahr hatten wir eine gute Getreideernte. Die Scheune wurde voll, da mußten wir auf dem Felde eine Miete setzen. Die haben wir dann mit der Dreschmaschine auf dem Feld abgedroschen. Von einem guten Freund, dem Bauern Hugo Venzke aus Pustchow hatten wir einen Ölmotor geborgt. Der hat die Dreschmaschine gut gezogen, in zwei Tagen war die Miete ausgedroschen. Ein paar Jahre später hatte ich zu der Dreschmaschine eine Strohpresse gekauft, die das Dreschen zum Spaß gemacht hat.

IV. Meine Mitgliedschaft in der NSDAP

Es war wohl im September 1930, als bei uns in Silesen eine Versammlung der NSDAP (Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei) angesetzt wurde. Der Redner hieß Frühauf, von den Belgardern waren Günter Klemm und Horst Grade dabei. Die Versammlung war gut besucht, waren doch alle neugierig, was der Redner zu sagen hatte. Von Adolf Hitler hatten wir schon alle was gehört, aber noch keinen Redner erlebt. Die NSDAP war damals doch eine neue Partei; nun wollten alle hören, was der Redner zu sagen hatte.

Nach der Versammlung haben wir im Gasthof Manke ein Glas Bier getrunken und dabei erzählt, was der Redner uns gesagt hatte. Es waren wohl vier bis fünf Mann, die gingen mit mir wieder zurück, wo die Versammlung gewesen war. Als wir dahin kamen, unterhielten sich der Redner und die beiden Belgrader mit der Jugend aus Silesen wegen der SA (Sturmabteilung) und Mitgliedschaft zur Partei. Nach vielem Hin und her haben wir dann auch einen Mitgliedsschein unterschrieben und wurden so Mitglied der NSDAP. Wir waren nun 16 neue Mitglieder, und so wurde die NSDAP-Ortsgruppe Silesen gegründet. Nun mußte aber noch einer benannt werden, an den die Post geschickt werden konnte. Und da hatten sie mich vor, der gleich Ortsgruppenleiter sein müsse. Nach vielem Zureden habe ich dann ja gesagt.

Mein Vetter Reinhard Haeger aus Mandelatz war Kreisleiter der NSDAP, und der Ortsgruppenleiter von der Stadt Belgard, Hermann Prodöhl war mir auch gut bekannt. Und so haben wir dann damals die Arbeit aufgenommen.
Zu unserer Ortsgruppe Silesen gehörten damals: Bulgrin-Zellenleiter Albert Schimmel, Pustchow-Zellenleiter Max Haeger, Kösterniz-Zellenleiter Albert Münchow, Pumlow-Zellenleiter Alwin Runge. Pumlow und Pustchow wurden später auch Ortsgruppen, dann hatte ich nicht mehr soviel Arbeit.

[...]

Für uns alte Parteigenossen gab es nun schöne Reisen. So waren wir, Artur Belz und ich, Max Haeger und Hugo Venzk aus Pustchow 1933 zum Erntedankfest mit nach Bückeburg und Hameln. Haben dann auch den Rattenfänger von Hameln in der Gebirgsgrotte gesehen. Im September 1934 waren wir vier Tage zum Parteitag der NSDAP in Nürnberg. da gab es auch viel zu sehen.

[...]

V. Der Zweite Weltkrieg 1939 - 1945

Über den Aufbau der deutschen Wehrmacht haben wir uns gefreut. Der pommersche Bauer war schon immer konservativ. Im August 1938 sollte ich eine militärische Übung bei der schweren Artillerie mitmachen. Da blieb ich überzählig und mußte nach Hause gehen.

[...]

Am 16. September bekam ich auch den Gestellungsbefehl, wir mußten uns in der Belgarder Kaserne stellen. Nach paar Tagen in Köslin sind wir dann über Belgard, Stettin, Berlin, Stendal, Ülzen nach Fallingbostel gekommen, wurden ausgeladen und kamen in das Waldlager Bergen-Belsen, wo wir ein paar Wochen gelegen haben. Sind einmal nach Fallingbostel zur Kirche gewesen. Dann wurden wir wieder verladen und sind über Fulda, Frankfurt bis in die Nähe von Karlsruhe gekommen. Wir wurden ausgeladen und lagen hier in Bereitschaft. In Ellingen sind wir auch einmal zur Kirche gewesen. Diejenigen, die den ersten Weltkrieg mitgemacht hatten, also auch ich, wurden zu Weihnachten über Braunschweig entlassen.

[...]

Wir in der Landwirtschaft haben unser Bestes gegeben, wir haben abgeliefert, was wir konnten, sei es Getreide, Kartoffeln, Vieh, oder was es war. Wir bekamen vom Arbeitsamt nun schon ausländische Arbeitskräfte. Zuerst Franzosen, bis 1943, dann kamen Serben, einer blieb bis zum Kriegsende, und schließlich eine Russenfamilie, Alex und Maria mit einem kleinen Jungen. Sie wohnten in meinem Arbeiterhaus.

[...]

Durch die immer stärker werdenden Luftangriffe der Amerikaner, die in England gestartet waren, sanken die deutschen Städte und Fabriken in Schutt und Trümmer. Unsere Schwester Berta und Schwager Helmut wohnten in Berlin-Tempelhof, Clodwigstraße 10, waren schon ab Frühjahr 1943 bei uns in Silesen, ihr Haus wurde im Frühjahr 1944 bombardiert. Wir sind hingefahren und haben uns es angesehen. Die ganze Straße war zerstört, die Keller standen unter Wasser (Löschwasser), haben so mitgenommen was noch erhalten war.

[...]

Am 16. Februar 1942 starb unsere liebe Mutter. Sie war am 2. Januar 76 Jahre alt geworden. Sie hat nicht lange krank gelegen. Ich hatte Schwester Martha und Berta aus Berlin benachrichtigt, und so waren wir dann alle um unsere kranke Mutter versammelt. Wir haben dann öfter den Arzt aus Belgard geholt, aber es wollte nicht besser werden. So ist dann unsere liebe Mutter am 16. Februar 1942 für immer von uns gegangen. Am 20. Februar haben wir sie auf unserem Heimatfriedhof in Silesen zur letzten Ruhe gebettet. Es war dann der kalte Winter, und es lag sehr viel Schnee.
An meinem Geburtstag, dem 25. Mai 1944, waren wir in der Familie alle zusammen. Um 12 bis 1 Uhr nachts wollten wir alle nach Hause gehen, so auch Opa und Oma Knop. Wera und ich waren auch eben ins Bett gegangen, dann kam Schwager Ernst bei uns ans Fenster, und sagte, Mama sei tot. Opa war mit Oma langsam nach Hause gegangen, und als sie zu Hause vor der Tür sind, da kann Oma nicht mehr weiter gehen. Es war wohl Herzschlag, daß so ein schnelles Ende kam.
Pfingsten 1944 wurde Oma beerdigt. Es war wohl Gottes Wille, daß Oma die schwere Zeit nach dem Krieg nicht mehr erleben sollte.

Weihnachten 1944 kamen die ersten Flüchtlingstrecks aus Ostpreußen durch unser Dorf Silesen und zogen nach Westen. Die Trecks wurden immer mehr. Die Kavallerieschule aus Bromberg war einen Tag in Silesen einquartiert. Die Schüler waren fast alle adlig. Unser ganzer Stall stand voller Pferde.

Nun kamen die Russen uns immer näher. Ich hatte auch zwei Treckwagen fertig gemacht, einen Plan übergezogen, unten mit Teppich ausgelegt, es war ja noch im Februar, Futter für die Pferde verpackt. Wir dürften bloß aufspannen, einsteigen und losfahren. Aber dazu kam es nicht mehr, wir konnten doch nicht mehr über die Oder. Der Russe war von Küstrin an der Oder hoch gegangen bis zur Ostsee. Als wir hörten, daß diejenigen, die losgefahren waren, unterwegs liegen geblieben waren, blieben wir lieber auf dem Hof. Am 3. März 1945, gegen Abend, wir standen zu Hause alle auf der Treppe, hörten wir von Bulgrin her ein dumpfes Brummen. Das waren russische Panzer. Die kamen von Osten und fuhren durch unser Silesen weiter nach Belgard.

VI. Zehn-Monate-Martyrium unter russischer Herrschaft

Am 4. März 1945 vormittags kam mit unserem Alex, der als Russe bei uns gearbeitet hatte, ein russischer Kavallerist bei uns auf den Hof, der nahm mir gleich die Uhr weg, holte sich meinen Sattel und Zaumzeug vom Boden (unser Alex wusste, daß ich das hatte), dann kamen alle Tage Russen auf den Hof und wollten etwas haben. Ein paar Tage später kam Infanterie, das war wohl die Kampflinie. Es waren wohl zwölf Mann, die durch alle Stuben gingen. Der Anführer wollte von mir auch noch eine Uhr haben. Unser Alex war auch in der Küche und sagte ihm auf russisch, daß meine Uhr schon weg sei. Dann suchte er mir die Taschen nach, da fand er meine Sonntagsuhrkette aus Silber, die nahm er mir dann weg.

Als die Russen weg waren, sah ich meinen Lodenmantel an der Tür hängen, in der Tasche drei Rahmen scharfe Munition darin, die wir vom Volkssturm hatten. Wenn die Russen die Munition gefunden hätten, hätten sie mich sofort erschossen. Wenn ich daran denke, wird mir jetzt noch heiß im Kopf.

Als die Russen kamen, haben viele Familien ihrem Leben ein Ende gemacht, viele sind ins Wasser gegangen, viele haben sich erschossen. Bei uns in Silesen hat sich der Bauer Karl Scheunemann erhängt. Armin Knop ist von den Russen erschossen worden.

Ein paar Tage später kam ein Kommando, da mußten wir alles Vieh zusammentreiben. Ich und noch paar Mann mußten mit nach Pustchow und von da die Kühe nach Silesen treiben. Auf unserem Hof und Vanselows Hof war alles Rindvieh aus Silesen, Pustchow, Pumlow und Butzke zusammengetrieben.
Nun mußten wir alles Vieh nach Köslin treiben. Es war im März, aber alle Tage war gutes Wetter. In Köslin wurde das Vieh auf den Hof einer Ziegelei getrieben, wo schon Hunderte von Kühen, Färsen und Bullen zusammen waren. Als wir losgetrieben sind, wurde uns gesagt, wir könnten gleich wieder nach Hause gehen, aber wir mußten alle dableiben und das Vieh versorgen. Über die Hälfte des Viehs ist da umgekommen, weil es nicht genug Futter und Wasser bekam. Es hat uns sehr leid getan, wie wir nun sehen mußten, daß unser eigenes Vieh verhungern mußte.

Da dort keine Bewachung war, sind wir dann nach etwa drei Wochen so nach und nach des Nachts weggegangen, um nach Hause zu kommen. So bin ich dann auch mit meinem Freund Willi Klug in einer Nacht losgegangen, um von Köslin nach Silesen zu kommen. Aber es war sehr schwer, des Nachts sieht alles anders aus als bei Tage, und allerwärts waren Russen. Die erste Nacht sind wir beide gegangen, und kamen wieder dahin, wo wir losgegangen waren. Da haben wir uns in einem kleinen Wald bei Gieskow über Tag versteckt und sind am Abend wieder losgegangen. Gegen Morgen, als es im Osten hell wurde, sind wir immer nach Westen gegangen, dann haben wir den Thunower Bahnhof gesehen, da wußten wir erst, daß wir auf dem richtigen Weg sind. Dann wurde es schnell hell, da sind wir wieder in einen Wald gelaufen, haben da über Tag gelegen, sind gegen Abend nach Westen gegangen, dann haben wir die Radü und den Gutshof Harmel in Bulgrin gesehen, sind auf den Steg über die Radü gegangen, an Bulgrin vorbei und über Feld nach Silesen zu Freund Willi Klugs Schwester, Frau Manke. Willis Frau Frieda und meine Wera haben uns den Abend besucht. Wir sind dann noch einige Tage bei Manke geblieben und dann nach Hause gegangen. Nur ein paar Tage haben wir beim Russen Feldarbeit gemacht.

Am 24. April, ich war gar nicht recht gesund, da kam Wera bei uns rein und sagte, alle Männer sollten zur Kontrolle zum Gasthof kommen, das dauere nicht lange. Ich bin ahnungslos, ohne ein Stück Brot, zum Gasthof gegangen. Es waren schon einige da. Da mußte ich nach oben in ein Zimmer kommen; dort saßen ein russischer Offizier, ein Dolmetscher und ein Russe mit einer MP unter dem Arm. Es wurde dann gefragt, ob ich in der Partei gewesen sei, ob ich ein Amt hätte; das wußten sie ja alles schon. Ich wurde gefragt, was ich gemacht hatte. "Alles, was von der Kreisleitung kam" war meine Antwort. Als das Verhör vorbei war, ging ein Russe mit mir nach Hause, durchsuchte meinen Schreibtisch, fand aber keine Parteisachen. Da er nichts gefunden hatte, (ich war das letzte Mal zu Hause) brachte er mich zurück zum Gasthaus.
Im Gastzimmer waren schon etwa 14 Mann, ein russischer Posten stand vor der Tür. Gegen Abend mußten wir draußen antreten, und dann ging es in Richtung Köslin. Ich in Holzpantoffeln. Wir sind die ganze Nacht gelaufen, zum Teil wurden wir auch gefahren.

In Köslin angekommen, wurden wir auf einen Trockenboden gesperrt. Gegen Mittag sollten wir zum Essenfassen (Rinderbrühe), aber wir hatten kein Eßgeschirr. Da mußten wir uns etwas suchen: Einer hatte eine Büchse gefunden, ein anderer einen Blumentopf. Löffel mußten wir uns aus einem Brett schneiden. Hier haben wir mehrere Tage auf dem Fußboden gegen.

Neben dem Trockenboden war ein Zimmer, da hatten die Russen junge deutsche Mädchen eingesperrt. Wenn es Abend war, holten die Russen sich welche raus. Wir konnten diesen doch nicht helfen. Eine Nacht haben wir in einer Baracke gelegen, an den Türen waren Verzeichnisse mit den Namen der jungen Mädchen.

Dann kamen wir in das Finanzamt, das als Gefangenenlager hergerichtet war, mit Stacheldraht umgeben. Eher wir hier reinkamen, mußten wir antreten, den Oberkörper freimachen; wer ein Messer hatte, mußte es abgeben. Im Bodenraum war es sehr kalt, des Nachts haben wir uns mit Landkarten zugedeckt.

Anfang Mai mußten wir alle raustreten, auf der Straße in 6er Reihe zu je 100 Mann. Der Flügelmann bekam eine Handvoll Rinderknochen und eine Handvoll Erbsen, die mußte er an die sechs Mann als Marschverpflegung verteilen. Als wir alle auf der Straße waren, es waren wohl paar tausend Mann, wurde in Richtung Bublitz abmarschiert - mehrere Reihen Offiziere vorne, an jeder Seite Russen mit MP's. Albert Schulz und ich in Holzpantoffeln, die wir öfter in die Hand genommen haben und auf Strümpfen gelaufen sind.

Gegen Abend kamen wir in Bublitz an, da wurden wir alle in die Kirche eingesperrt. Sie war ganz voll, einer saß auf dem anderen. An anderen Morgen mußten wir wieder alle antreten, doch bevor wir aus der Kirche gingen, spielte einer der Mitgefangenen auf der Orgel den Choral "Ach bleib' mit deiner Gnade". Nun ging es weiter.
Da kamen wir durch einen Wald, mit einem Mal lief einer der Gefangenen in den Wald, die Russen gleich "Halt" und hinter ihm geschossen. Der dumme Mann kriegte es wohl mit der Angst und kam wieder heraus. Den haben die Russen tot geschlagen, was wir alle gesehen haben. Sie ließen ihn im Graben liegen. Abends kamen wir in Neustettin an, da wurden wir in leeren Siedlungshäusern einquartiert. Am dritten Tag kamen wir nach Hammerstein vor dem großen Gefangenenlager an, das die Deutschen schon im Ersten Weltkrieg gebaut hatten. Es waren massive Baracken. Rechts neben mir lag Freund Willi, links von mir Schwager Ernst. Wir aus Silesen hielten uns immer zusammen.

Schwager Ernst wurde uns hier krank. Hier war an jedem Morgen und jeden Abend Zählappell, da mußten wir stundenlang stehen. Schwager Ernst konnte das nicht aushalten, er setzte sich dann schon auf die Erde. Er bekam es an dem Hals, es war wohl Diphtherie. Er wollte bei uns bleiben, er mußte ins Krankenrevier. Am 14. Mai 1945 ist Schwager Ernst dann gestorben. Albert Schulz und ich wollten ihn im Revier besuchen, aber wir durften nicht zu ihm. Da im Revier war ein deutscher Sanitäter. Da habe ich den Sanitäter gefragt, was Ernst Knop macht. Der sagte: "Ernst Knop? Dem geht es gut, der ist schon lange in der Erde." Da wußte ich, daß Schwager Ernst nicht mehr unter den Lebenden war. Wo er beerdigt ist, weiß ich nicht, es sind da jeden Tag viele gestorben. Ein holländischer Arzt hat mir dann später einen Sterbeschein von Schwager Ernst Knop gegeben. Den Schein habe ich später Erika gegeben (seiner Ehefrau).

Im Lager war es alle Tage dasselbe, vormittags paar Stunden beim Zählappell stehen, nachmittags ebenso. Mit der Verpflegung war es recht knapp, wir mußten damit zufrieden sein. Zum Mittag gab es einen Kübel voll Suppe, immer für 50 Mann. Die Portion war eine Büchse voll. Um das Gefangenenlager war ein doppelter Stacheldrahtzaun. In diesen war ein Roggenhalm gewachsen, den habe ich jeden Tag bewundert, wie er immer größer wurde. Anfang Juli kamen wir Älteren aus dem Lager, wir wurden dort auf dem Bahnhof verladen. Keiner wusste, wo es hingeht. Es hieß nur, wir kämen auf Arbeitskommando.

Es ging nach Westen. Es ging über Neustettin, Gramenz, Kiefheide, Belgard, hier eine gute Stunde Aufenthalt, bis nach Kolberg. Dort wurden wir ausgeladen und auf Arbeitskommandos verteilt. Unser Kommando war etwa 100 Mann und wurde in der Schule Alt-Bork einquartiert. Wir mußten beim Dreschen helfen und andere landwirtschaftliche Arbeiten machen. Dann kamen wir nach Kolberg und wurden in eine Kaserne einquartiert. Hier mußten wir die Kasernen sauber machen, Steine abputzen, mußten aus der Torpedoschule Material und große Rollen Papier bis zu 10 Zentner auf Autos verladen und zum Hafen zur Verladung bringen. Aber wie sah der Kolberger Hafen aus, das glaubt kein Mensch! Dann sind wir auch durch Kolberg marschiert, aber wie sah Kolberg nun aus. Keine Kirche stand mehr bis auf eine, der Dom war ausgebrannt, nur die Ringmauern standen noch. Wir wurden nun nach Neu-Tramm in die Schule einquartiert, mußten aber weiterhin Kolberger Kasernen sauber machen. Dann kamen wir nach Drosedow, hier mußten wir beim Dreschen helfen, sind auch durch Zernin marschiert. Weiter dann nach Darsow, wir haben auch hier in der Landwirtschaft gearbeitet. Weiter ging es nach Kolberger Deep, Laufgräben in Walde machen, schließlich nach Horst an der Ostsee, weiter nach Treptow an der Rega, um allerlei Arbeiten zu machen.

Von Treptow aus wurden mein Freund Willi Klug und noch weitere 20 Kameraden entlassen, es war Ende Januar 1946. Ich mußte noch bleiben, das war für mich sehr schwer. Ende April 1946 wurden wir wieder von russischen Ärzten untersucht, dann wurden wir restlichen 24 Kameraden entlassen. Der russische Kapitän sagte uns: "Aber alles nach Westen, über die Oder!" Was sollte ich nun machen? Nach Hause durfte ich nicht, da bin ich dann mit den Kameraden mitgegangen in Richtung Swinemünde.

Als wir in das erste Dorf kamen, wo Deutsche waren und wo wir übernachten wollten, da waren die Polen schon da. Die sperrten uns in einen Holzschuppen ein mit einem Posten vor der Tür. Die Polen haben uns zwei Tage festgehalten, dann ließen sie uns wieder gehen. Dann sind wir nicht mehr in die Dörfer gegangen, haben uns lieber im Wald ein Lager gemacht. So kamen wir dann nach Swinemünde, wo wir über die Oder gesetzt wurden und bis nach Ahlbeck kamen, das deutsch war. In Ahlbeck haben wir einige Tage gelegen, dann haben wir uns eine Fahrkarte nach Berlin besorgt, um zu Schwester Martha nach Pankow zu fahren. Abends kamen meine drei Begleiter und ich in Berlin an, haben die Nacht auf der Treppe zur S-Bahn gelegen. Morgens früh bin ich mit der S-Bahn nach Pankow gefahren, Wollankstraße ausgestiegen und zur Schulstraße gegangen.

Die Türen waren zu, ich habe Martha gerufen, mit der Zeit machte eine Frau oben das Fenster auf und sagte: "Frau Knuth ist nicht hier, die ist bei ihrer Tochter in Mühlenbeck" Dort habe ich dann Schwester Martha und Nichte Hildegard gefunden. Schwester Martha war im Garten, und wie sie mich gesehen hat, sagte sie "Ach Gott, Paul!" Ich hatte doch alte zerlumpte Kleider an und einen alten Sack auf dem Rücken. Meine erste Frage war "Wo sind Wera und die Kinder?". Ich hatte doch über ein Jahr nichts von Wera und den Kindern gehört. Schwester Martha sagte dann, daß Wera und die Jungens noch zu Hause in Silesen seien, und Rita sei in Osterburg im Krankenhaus als Schwester beschäftigt. Da war ich sehr froh, daß meine Lieben noch am Leben waren.

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